Jakobsweg – Hintergrund

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1. Einleitung und zusammenfassender Überblick
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1253 schickte Ludwig IX von Frankreich einen flämischen
Franziskaner namens Wilhelm von Rubruk in diplomatischer
Mission nach Innerasien zu den Mongolen. 1254 erreichte
der Mönch das „ordou“ (Lager) des Großkhans Möngke und
folgte dem Herrscher nach Karakorum. Dabei machte Rubruk
die Bekanntschaft eines armenischen Mönchs namens
Sergius. Dieser hatte zunächst als Einsiedler in der
Nähe Jerusalems gelebt, ehe er sich dem Großkhan
anschloß. Der Franziskaner hat die Worte des Sergius
überliefert: „Er begann mich über den Papst zu befragen,
ob ich glaubte, daß er ihn zu sehen wünsche. Und ob ich
ihm ein Pferd geben wolle, um nach Santiago zu reiten
und dort die Hilfe des heiligen Jakobus anzuflehen.“ Um
die Mitte des 13.Jahrhunderts war also die Pilgerfahrt
nach Santiago de Compostela „weltbekannt“ selbst ein
armenischer Mönch, den es zu den Mongolen verschlagen
hatte, wußte davon…

Das Grab des Apostels Jakobus in Santiago de Compostela,
am Ende der Welt im spanischen Galizien, wurde ab der
Jahrtausendwende zum Zielpunkt einer Pilgerbewegung, die
über Jahrhunderte nicht abreißen sollte und heute eine
regelrechte Renaissance erlebt. 1982 besuchten nicht
weniger als sechs Millionen Pilger das Jakobusgrab in
Galizien, 1987 hat der Europarat eine Kampagne zur
Wiederbelebung des Santiago-Reisekults und zur
Restaurierung der alten europäischen Jakobsrouten in die
Wege geleitet. Die Erinnerung an die Glanzzeiten der
Pilgerfahrt wird wach, von denen die islamischen Gegner
Zeugnis ablegen. Im 12. Jahrhundert berichtet der
Gesandte des Almoraviden-Emirs Ali ben Jusuf seinem
Herrn: „Die Menge der christlichen Pilger, die nach
Santiago de Compostela gehen und wieder zurückkommen,
ist so groß, daß sie kaum den Weg nach Westen
offenlassen.“

Am Anfang steht die Legende. In Erfüllung des
Missionsauftrags Jesu habe der Apostel Jakobus in
Spanien den Glauben verkündet. Später sei er nach
Palästina zurückgekehrt, wo er als erster der Apostel
das Martyrium erlitt. Seine Jünger hätten den Leichnam
aus Angst vor den Juden auf dem Seeweg nach Spanien
gebracht. Dort seien sie in der Nähe der Küstenstadt
Iria Flavia (heute El Padrón) gelandet. An einem „arca
marmorea“ oder ähnlich genannten Ort habe Jakobus seine
letzte Ruhe gefunden. Das Grab sei später in
Vergessenheit geraten und erst zu Beginn des 9.
Jahrhunderts unter Bischof Theodomir (+841) durch den
Hinweis eines leuchtenden Sterns wiederentdeckt worden.
Schon 844 soll der Heilige den christlichen Heeren in
der Schlacht von Clavijo zum Sieg über die Mauren
verholfen haben. Im Laufe der Zeit nimmt die Legende
immer mehr Gestalt an und gewinnt europäische
Dimensionen. Die Reliefs auf dem Karlsschrein in Aachen
zeigen, wie eine funkelnde Milchstraße Karl dem Großen
im Traum den Weg nach Santiago weist. Diese Vision
führte auch zur Bezeichnung der Pilgerstraße als
„Sternenweg“. Der Spanienfeldzug Karls (mit der später
im Rolandslied episch ausgestalteten Niederlage seiner
Nachhut bei Roncesvalles) dient so der Befreiung des
„Sternenwegs“ von den Mauren.

Überregionale Bedeutung gewinnt die Jakobusverehrung und
die entsprechende Pilgerfahrt ab dem 10. Jahrhundert.
Der erste namentlich bekannte Pilger ist Bischof
Godeschalk von Le Puy, der 951 Santiago aufsucht. Im
Hochmittelalter steht die Stadt ranggleich neben den
Fernpilgerzentren Rom und Jerusalem. Jakobus
„Matamoros“, der Maurentöter, wird zur spirituellen
Symbolfigur der Reconquista, der christlichen
Rückeroberung des islamischen Spanien, die sich bald mit
der Kreuzzugsbewegung verbindet. Den Reconquistakämpfern
gewähren die Päpste denselben Ablaß wie den Streitern
für die Befreiung des Hl.Grabes in Jerusalem. Wer in der
Reconquista kämpfte wie viele französische Ritter -,
besuchte das Grab des spanischen Nationalpatrons. Die
wachsende Mobilität der Gesellschaft ab dem 11.
Jahrhundert, die Reliquienfrömmigkeit und der
Wunderglaube des mittelalterlichen Menschen führen zu
einem ungeahnten Anwachsen der Pilgerströme vor allem
aus Frankreich, Deutschland und auch England. Gerade
Frankreich hat das größte Kontingent der Pilger
gestellt. Der spanische Abschnitt des Pilgerwegs trägt
bald den Namen „camino frances“.

Der Weg nach Santiago de Compostela ist ein Weggeflecht,
das sich über ganz Europa erstreckt, in vier großen
Wegen von Paris, Vézelay, Le Puy und Arles durch
Frankreich zieht, bei Roncesvalles und Somport die
Pyrenäen überquert und sich bei Puente la Reina zur
großen Pilgerstraße, dem „camino frances“ durch
Nordspanien, vereinigt. Die romanische Kunst hat entlang
dieser Pilgerstraßen bedeutende Pilgerbasiliken
geschaffen. Klöster, nicht zuletzt aus dem Verband von
Cluny, Kanonikerstifte und Bruderschaften sorgten für
die Infrastruktur des Reisens. Pilgerhospize und
Herbergen entstanden, Brücken und neuangelegte Straßen
sorgten für eine Bewältigung der Pilgerströme.
Pilgerfahrt und Handel förderten sich gegenseitig.
Mißbräuche konnten nicht ausbleiben. Ein Pilgerführer
aus dem 12. Jahrhundert, der „Liber Sancti Jacobi“ bzw.
„Codex Calixtinus“, führt beredte Klage über
betrügerische Wirte, räuberische Kleriker, falsche
Beichtväter, unehrliche Geldwechsler, ungerechte
Zöllner, warnt vor Straßenräubern und mit genauer
Ortsangabe vor Dirnen, „die zwischen der Mino-Brücke und
Palas del Rey an waldreichen Orten den Pilgern häufig
entgegentreten.“

Die Pilgerfahrt wurde nicht vom Adel oder Klerus
getragen, sondern von der großen anonymen Masse der
einfachen und unbekannten Leute. In Legende und Kult muß
Jakobus dem mittelalterlichen Menschen als moderner,
attraktiver Heiliger erschienen sein, dessen Verehrung
noch nicht in liturgischen Formen erstickt war wie der
Petrusund Pauluskult in Rom. Was hat den
mittelalterlichen Menschen bewogen, sich auf eine so
lange, über Hunderte von Kilometern gehende und
gefahrvolle Fahrt zu begeben? Reiselust und Fernweh, der
Zug nach dem äußersten Rand der Welt, spielten
sicherlich eine Rolle, waren aber eingebunden in die
spirituell-religiöse Dimension. Das ganze Leben des
Christen war Pilgerfahrt; er ist noch unterwegs zu
seiner ewigen Bestimmung bei Gott. Dieses Unterwegssein
in der Nachfolge Christi kann sich in dem Wunsch
konkretisieren, die Orte des irdischen Lebens Christi
aufzusuchen (Jerusalem) oder zu einer Stätte zu pilgern,
die durch ein Apostelgrab geheiligt ist (Rom, Santiago
de Compostela). Zudem konnte man durch eine Pilgerfahrt
sein Seelenheil trotz begangener Sünden sichern, war sie
doch mit einem Ablaß verbunden. Dazu kommt als wichtiger
Faktor die Reliquienverehrung. Den Reliquien eines
Heiligen werden übernatürliche Kräfte beigemessen. Die
Reliquien galten als echt, wenn sie Wunder wirkten. Die
Heilung von Leib und Seele als Lohn für den Besuch des
Apostelgrabes wird entsprechend in den Pilgerführern und
Berichten immer wieder hervorgehoben. Jakobus wirkte
Wunder. Körperliche oder andere Gebrechen veranlaßten zu
einer Bittwallfahrt; andere zogen nach Santiago, um dem
Apostel für eine wunderbare Errettung zu danken und ein
entsprechendes Gelübde zu erfüllen. Vor allem im
Spätmittelalter gibt es auch den Typ der Bußoder
Strafwallfahrt, zu der ein Missetäter von kirchlichen
oder auch weltlichen Instanzen verurteilt wird. Sogar
die Form der Delegationspilger, die stellvertretend für
einen anderen oder im Auftrag einer Gruppe pilgern, ist
anzutreffen.

Begab sich ein Pilger auf die gefahrvolle Reise, mußte
er zuerst seine persönlichen Angelegenheiten ordnen und
Vorsorge für sein Seelenheil im Falle des Todes treffen.
In der klassischen Pilgerkleidung mit Hut, Stab, Tasche
und Umhang (die spätere „Pelerine“) zog er dann auf
einem der vier Hauptwege durch Frankreich und ab Puente
la Reina jeneits der Pyrenäen den „camino frances“. Auf
dem Paß von Roncesvalles verrichtete er ein Gebet und
stellte ein Kreuz auf. An der galizischen Grenze bekam
er einen Stein, den er zur Kalkgewinnung mit nach
Santiago nahm. Nach einem wohl notwendigen Bad kurz vor
Santiago verbrachte der Pilger dann die erste Nacht
wachend und betend in der Kathedrale. Berühren und
Küssen von Kathedrale, Altar und Apostelschrein standen
auf dem Programm, ebenso die Übergabe der mitgebrachten
Gaben. Vor der Heimreise erhielt der Pilger als Zeichen
seiner erfolgten Pilgerfahrt die Jakobsmuschel, die er
sich an Hut oder Mantel heftete.

Der Sternenweg nach Santiago de Compostela diente wie
kein anderer der Integration Europas. Die Pilger kamen
aus Frankreich und Deutschland, ausd Italien,
Griechenland, den Niederlanden, England und
Skandinavien. In ihrer Bedeutung für das Zusammenwachsen
des Abendlandes, die gemeinsame religiöse Ausrichtung,
das Aufblühen von Handel und Gewerbe, Kunst und
Wissenschaft kann die große gesamteuropäische
Pilgerfahrt kaum hoch genug gewertet werden.

2. Die Legende
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„Legenden sind zuweilen einflußreicher als die
Geschichte“(Bottineau). Im Motivationsgeflecht der
Santiago-Pilgerfahrt verbinden sich Realität und
Fiktion, historische Konstellationen und Imagination zu
einem wirkmächtigen Ganzen. Die historische Forschung
hat sich äußerst intensiv mit dem Gehalt der in der
Einleitung (s.o.) kurz skizzierten Legende um den
Apostel und sein Grab befaßt. Vor allem vier
Problemkreise werden diskutiert: Die Predigttätigkeit
des Apostels Jakobus in Spanien; die Überführung seines
Leichnams; die Grabentdeckung im 9. Jahrhundert und
schließlich die Gründe, die zur Entwicklung des
Jakobuskultes geführt haben. Faßt man die Ergebnisse
kurz zusammen, ergibt sich folgendes Bild:

a) Die Predigttätigkeit des Apostels Jakobus in Spanien:
Eine spanische Missionstätigkeit des hl.Jakobus läßt
sich aus der Bibel oder altchristlichen Zeugnissen nicht
belegen. Erste Hinweise finden sich im „Breviarium
Apostolorum“ (ca. Ende 6.Jh.), das seit dem 7.
Jahrhundert besonders in Gallien verbreitet war. Es
bestehen wahrscheinlich Verbindungen zu griechisch-
byzantinischen Apostelkatalogen. Besondere Bedeutung vor
allem wegen seiner Entstehung im kirchenpolitischen
Streit um den Adoptianismus erlangten dann der
Apokalypsekommentar des asturischen Abts Beatus von
Liébana (+798), der eine Missionstätigkeit des Apostels
in Spanien erwähnt, und der dem Beatus zugeschriebene
Hymnus „O Dei Verbum“. Noch im 10. Jahrhundert wurde die
Legende jedoch noch nicht allgemein akzeptiert. Erst
seit dem 11. Jahrhundert gewinnt sie weite Akzeptanz, im
12. Jahrhundert sind dann alle wesentlichen Merkmale
voll ausgebildet. Erst seit dem 16. Jahrhundert kommt
wieder Kritik auf.

b) Die Überführung des Leichnams nach Spanien: Für eine
Überführung gibt es keine altchristlichen Zeugnisse.
Eine „Passio magna“ zum Martyrium des Apostels basiert
auf Texten des 6. Jahrhunderts und ist in Spanien seit
dem 7. Jahrhundert bekannt. Erst seit diesen Texten zum
Tod des Apostels finden sich Hinweise auf eine
Überführung. Einzelheiten des ausführlichen
Überführungsberichts der Legende sind erst im 10./11.
Jahrhundert Allgemeingut geworden. Dies steht wohl im
Kontext der „Grabentdeckung“, um das Kommen des
Apostelleichnams nach Spanien zu erklären.

c) Die Grabentdeckung im 9. Jahrhundert: Gesicherte
schriftliche Quellen zur Grabentdeckungslegende stammen
aus dem 11. Jahrhundert. Datiert wird die Entdeckung auf
das Jahr 813 unter Bischof Theodomir. Seit dem 9.
Jahrhundert gibt es einen zunächst lokalen, dann
regionalen Jakobuskult. Grabungen ergaben ein römisches
Mausoleum aus dem 1./2. Jahrhundert, das bis ins 5.
Jahrhundert als Grabstätte gedient hat und Spuren
frühchristlicher Begräbnisriten aufweist. Es ist
durchaus wahrscheinlich, daß im 9. Jahrhundert zur Zeit
Theodomirs ein Grab aus christlicher Frühzeit gefunden
und als Grab des Apostels angesehen wurde.

d) Gründe für die Entwicklung des Jakobuskultes: Die
Frage nach der Kultentstehung ist nicht vollkommen
schlüssig zu beantworten. Geht man davon aus, daß die
Kunde von einer Missionstätigkeit des Apostels im 9.
Jahrhundert dazu geführt hat, bei Compostela nach dem in
den Traditionen erwähnten Marmorgrab zu suchen, ein Grab
entdeckt und die Knochenreste mit dem Apostelleichnam
gleichgesetzt wurden, bleibt doch die Frage, warum im
Spanien des 8./9. Jahrhunderts das plötzliche Interesse
an der Jakobusverehrung aufkam. Dazu ist ein Blick in
die Geschichte erfoderlich: 711 erlag in der Schlacht am
Guadalete das westgotische Reich dem Ansturm der Mauren.
Nur in den Gebirgsgegenden des nördlichen Asturien und
in Galizien konnten sich die Christen behaupten. Das
Königreich Asturien entwickelte sich seit der Zeit des
Königs Alfons II (791-842) zum Hort der hispanischen
Tradition. Allmählich prägte sich bei den Asturiern im
Abwehrkampf gegen den Islam ein Sendungsbewußtsein aus,
das der Rettung der christlichen Kirche und der
Wiedererrichtung der gotischen Monarchie galt. Alfons II
baute nach dem Vorstoß der Mauren von 794/95 Oviedo zur
Königsstadt aus, die damit in Konkurrenz zum bisherigen
geistigen Zentrum Toledo trat. Dies führte naturgemäß zu
Spannungen, die sich im theologisch-kirchenpolitischen
Adoptianismusstreit zwischen dem Erzbischof von Toledo
und dem asturischen Abt Beatus von Liébana (+798)
entluden. Asturien hatte sich dabei die Unterstützung
durch das Frankenreich gesichert. Karl der Große und
Alfons II tauschten Gesandtschaften aus, Beatus
korrespondierte mit dem fränkischen Reichstheologen
Alkuin. Der Spanienfeldzug Karls mit der später episch
ausgestalteten Niederlage seiner Nachhut bei
Roncesvalles (798, „Rolandslied“) unterstreicht die
Verbindung des Frankenreichs mit dem sich
konsolidierenden asturischen Königreich und der
beginnenden Reconquista. In diese Zeit fällt die
Entdeckung des Grabes des Apostels Jakobus des Älteren
im galizischen Compostela. Dies und der aufkommende
Jakobuskult verschaffte dem erstarkenden asturischen
Reich eine wirksame Identifikationsund
Legitimationshilfe. Nicht von ungefähr findet sich die
wichtigste Erwähnung der spanischen Missionstätigkeit
des Jakobus gerade in einer Schrift des nun schon
mehrfach erwähnten Beatus. Asturien hielt drei
islamischen Offensiven (791-796, 823-826/828 und 839-
841) stand. In diesem Existenzkampf Asturiens gegen das
Emirat von Córdoba wurde Jakobus zum Patron der
Christen. Schon 844 schrieb man seinem Eingreifen den
Sieg in der Schlacht von Clavijo zu ein früher Beleg für
Jakobus als Schlachtenhelfer im Kampf der Reconquista
(„Matamoros“ -Maurentöter).

Fazit

Predigt wie Überführungslegende lassen sich nur bis ins
6. Jahrhundert zurückverfolgen. Im lateinischen Westen
ist die Legende seit dem 7. Jahrhundert nachweisbar. Der
Jakobuskult entstand in Asturien im ausgehenden 8.
Jahrhundert. Dieser Kult verursachte die Grabentdeckung
bzw. den Kult um die Grabstätte. Das geistige Klima für
die Aufnahme und Weiterentwicklung der Legende ist in
der zeitgeschichtlichen Situation Asturiens im 8.
Jahrhundert zu suchen. In den Auseinandersetzungen des
Adoptianismusstreits lieferte die Jakobustradition die
entscheidende Hilfe, den alten Vorrang Toledos für sich
zu beanspruchen. Die in Asturien beginnede Reconquista
sowie die Reliquienfrömmigkeit des mittelalterlichen
Menschen waren weitere für die Kultverbreitung wichtige
Faktoren.

3. Abriß der Geschichte der Pilgerfahrt
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7.Jh.: Durch die lat.-gr. „Apostelkataloge“ kommt die
Tradition auf, Jakobus der Ältere habe in Spanien
missioniert. Diese Nachricht hat jedoch auf der
Iberischen Halbinsel so gut wie keine Aufmerksamkeit
erregt.

8.Jh.: Einen Wendepunkt markiert der asturische Abt
Beatus von Liébana (+798). In seinem Apokalypsekommentar
greift er die Zuteilung Spaniens an Jakobus aus den
Apostelkatalo gen auf. Zeitgeschichtlicher Hintergrund:
Selbstfindungsprozeß des jungen asturischen Reiches;
Spannungen mit dem bisherigen Zentrum Toledo; Kampf
gegen die Mauren; Reliquienverehrung. Vor diesem
Hintergrund ist die Auffindung des angeblichen
Apostelgrabes im ersten Drittel des 9. Jahrhunderts in
Compostela zu sehen und zu werten.

9.Jh.: Compostela ist zunächst ein regionales
Wallfahrtszentrum.

951: Der erste namentlich bekannte Pilger ist Bischof
Gode schalk von Le Puy. Die Pilgerfahrt ist wegen der
von Nor mannen und Mauren drohenden Gefahr noch sehr
unsicher.

997: Al-Mansur stößt bis Santiago de Compostela vor.
Danach jedoch beginnt die Blütezeit der Pilgerfahrt.

11.Jh.: Die Omajadenherrschaft bricht zusammen.

12.Jh.: Die Reconquista erzielt gute Erfolge.

Im 11. und 12. Jahrhundert erreicht die Pilgerfahrt
ihren ersten Höhepunkt. Santiago de Compostela wird zum
bedeutendsten Fernpilgerzentrum neben Rom und Jerusalem.
Schon in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts kommt
es wegen der großen Pilgerströme und der wachsenden
Bedeutung zu Rivalitäten mit der römischen Kurie. Vor
allem aus Frank reich, aber auch aus Deutschland,
Flandern, England und Italien kommen die Pilger. Die
Pilgerfahrt bindet Europa zusammen und fördert die Idee
eines einheitlichen kultu rellen und sakralen Raumes.

1077: In Santiago de Compostela wir eine neue Kathedrale
errichtet.

1095: Der Bischofssitz wird endgültig von Iria Flavia
nach Santiago de Compostela verlegt.

1120/24: Santiago de Compostela wird zum Erzbistum
erhoben.

1139/43: Redaktion des „Liber Sancti Jacobi“ bzw. „Codex
Calixtinus“. Dieser wahrscheinlich von einem französi
schen Kleriker verfaßte Pilgerführer bietet viele Infor
mationen und eine Fülle an anschaulichem Material zur
Pilgerfahrt.

Ihre Glanzzeit erlebt die Pilgerfahrt in der Zeit vom
12. bis zum 14. Jahrhundert. Erste Krisenzeichen zeigen
sich im 15. Jahrhundert; Humanismus und Reformation
haben dann weiter zum Rückgang der Pilgerfahrt
beigetragen. In Spätmittelalter und früher Neuzeit wird
die Pilgerfahrt mehr zur Abenteuerund Bildungsreise, die
religiöse Komponente tritt zurück. Anzeichen eines
Aufschwungs zeigen sich im 17. Jahrhundert im Kontext
des Wiedererstarkens des Katholizismus nach der
Tridentinischen Reform. Ganz aufgehört hatte die
Pilgerfahrt nie. Eine einschneidende Zäsur stellt die
Französische Revolution dar. Nach dieser Umwälzung
scheinen die Pilgerfahrten fast ganz aufgehört zu haben.
Eine Wiederbelebung erfuhr die Pilgerfahrt durch die
„zweite“ Auffindung der Reliquien des Apostels Jakobus
im Jahr 1879 und die folgende Bestätigungsbulle Leo XIII
von 1884. Mit dieser zweiten Auffindung hat es folgende
Bewandtnis: Die Reliquien des Apostels befanden sich
unterhalb der capilla mayor in einer Krypta, zu der man
gewöhnlich nicht hinabstieg. Im Laufe der Zeit wurde
sogar ihr Eingang unkenntlich gemacht. Um 1660 erhielt
die capilla mayor eine neue Barockgestaltung. Anfang des
18. Jahrhunderts wurde sie wegen der Bedrohung durch die
Engländer geschlossen. Mit der Zeit geriet die Stelle,
wo die Reliquien des Apostels ruhten, in Vergessenheit;
man wußte nur noch um die Überlieferung, daß sich das
Grab in der Krypta befinde. Erst in der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts forschte man nach und fand bei
Grabungen in der Nacht des 28. Januar 1879 die
angeblichen Gebeine des Apostels. Sowohl die
Ausgrabungen wie die folgende römische Untersuchung mit
dem Ergebnis der Bestätigungsbulle sind umstritten. Doch
verhalfen sie der Pilgerfahrt zu neuem Leben.

In unserem Jahrhundert betonte General Francisco Franco
1937 den Jakobuskult neu, der 25. Juli wurde
Nationalfeiertag und Jakobus galt wieder offiziell als
Landespatron, dem die ganze Nation durch eine jährliche
Spende für das Kathedralkapitel ihre Verehrung erweisen
sollte. Einen erneuten Aufschwung erlebt die Pilgerfahrt
nach Santiago seit einigen Jahren. Im Rahmen des
Europagedankens wird die alte Idee der völkerund
kulturenverbindenden Fahrt wieder lebendig.

4. Praxis und Vollzug der Pilgerfahrt
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Zum Aufschwung der Pilgerfahrt nach Santiago de
Compostela trugen neben der Verehrung der Reliquien des
Heiligen (s.u. Nr.5) und der Verbindung mit dem
Reconquistaund Kreuzzugsgedanken (s.u. Nr.6) noch
weitere Faktoren bei, die das Pilgern zum Grab des
Apostels Jakobus zu einem Phänomen von
gesamteuropäischer Bedeutung werden ließen. Ökonomisch-
technischer Aufschwung sowie soziale und rechtliche
Veränderungen ab dem 11. Jahrhundert, literarische
Propagierung und Neuerungen in Architektur und Kunst
förderten einen Strukturwandel und führten in Verbindung
mit einer daraus hervorgegangenen erhöhten Mobilität
dieser Zeit zu einer Massenbewegung, die den Pilger und,
zusammen mit ihm, den Kreuzfahrer zur herausgehobenen
Erscheinung der europäischen Verkehrslandschaft machte.
Die jährliche Zahl der Jakobspilger ging in die
Hunderttausende; zahlenmäßig stand Santiago in seiner
Blütezeit Rom nicht nach.

Seit der Jahrtausendwende wurden die Pilgerfahrten zu
einem Kennzeichen der gesteigerten Mobilität des
Mittelalters. Unter dem kirchlichen Schutz des
Gottesfriedens, der treuga Dei, erfreute sich der Pilger
besonderer Privilegien (s.u. Nr.7). Als Pilger war ihm
zumindest auf Zeit der Ausbruch aus den Schranken seiner
Gesellschaft und seines Standes ermöglicht. Als Pilger
konnte er ihm sonst unerreichbar bleibende ferne Länder
und fremde Völker Europas zu Gesicht bekommen. Zugleich
hoffte er auf den Nachlaß seiner Sünden und, wie die
zahllosen Mirakelgeschichten zeigen, in vielen Fällen
auf die Erlösung aus Krankheit und Not.

Im 10. und 11. Jahrhundert erwähnen die Quellen fast
ausnahmslos hochadlige Pilger, Bischöfe und Äbte. Im 12.
und 13. Jahrhundert hingegen bilden die überwiegende
Mehrheit die namenlosen Pilger aus allen Ständen der
Christenheit. Es ist die Masse der bescheidenen
Gläubigen, die oft in ganzen Pilgerzügen, so 1203 aus
dem Rheingau oder mit Pilgerschiffen von Hamburg aus,
nach Santiago pilgern. Eine weit verästelte Organisation
von Pilgerkapellen, Jakobusbruderschaften, Hospizen,
Brückenund Wegbauten ermöglicht es den
Minderbemittelten, sich bis Galizien durchzuschlagen.
Auf den Pilgerstraßen zogen nicht nur die
Höhergestellten oder die berühmten Heiligen wie Franz
von Assisi, Bernhard von Siena, Vincenz Ferrer, Birgitta
von Schweden und Elisabeth von Portugal, sondern
Hunderttausende aus dem einfachen Volk. Die Pilgerfahrt
ist für diese Menschen, neben und in ihrer spirituellen
Bedeutung, auch eine Art Ausbruch aus dem grauen und
harten Alltag des mittelalterlichen Menschen.

Dieser Aspekt ist sehr treffend noch von Ferdinand
Gregorovius beschrieben worden. Gregorovius hat mit der
kritischen Nüchternheit des Historikers im Jahr 1856 die
Wallfahrt zur Madonna von Genazzano in der Nähe von Rom
beobachtet: „Man denke ferner“, schreibt er über die
Pilger, „daß dieses Volk in solcher Form des religiösen
Lebens erzogen, nichts Höheres hat als eine Wallfahrt
nach einem seiner Heiligtümer. Wenn es ein langes Jahr
in Mühe geduldet, und alle solche Schicksale und
Verschuldungen sich jahrdurch ihm aufgehäuft haben,
welche seine moralische Welt verwirren und sein Gemüt
belasten, dann greift es für ein paar Festtage zum
Wanderstab. Von seiner harten Scholle in den Bergen sich
lostrennend, von schwerer Arbeit ausruhend, bewegt es
sich einmal wieder und fühlt sich frei in Gemeinschaft
seiner Dorfund Stadtgenossen, mit denen es ein gleicher
Zweck vereinigt.“ Pilgerfahrt bedeutete in der Tat für
viele mittelalterliche Menschen „die konkrete Utopie vom
gelingenden Leben“ (Arno Borst).

Begab sich ein Pilger auf die gefahrvolle Reise, mußte
er zuerst seine persönlichen Angelegenheiten ordnen und
Vorsorge für sein Seelenheil im Falle seines Todes
treffen. Von seiner Frau und dem zuständigen Pfarrer war
die Reiseerlaubnis einzuholen, eventuelle finanzielle
Verpflichtungen mußten geregelt und das Testament
gemacht werden. Für alle Fälle gab es auf dem Pilgerweg
Einrichtungen, die darauf spezialisiert waren,
nachträglich ein Testament auszufertigen. Grundbestand
der Ausrüstung waren etwas Geld, der Pilgerstab und die
Pilgertasche. Der gewöhnliche Jakobspilger trug zunächst
keine kennzeichnende Kleidung. Wie jeder Reisende,
zumindest wenn er zu Fuß ging, benötigte er festes und
praktisches Schuhwerk; er brauchte außerdem Kleider, die
ihn beim Gehen nicht behinderten. Oft war er mit einer
lederverstärkten Pelerine und einem breitkrempigen,
meist runden Filzhut bekleidet, was ihn vor Kälte und
Regen schützte. Bald wurde diese Ausstattung zur festen
Tracht, zum äußeren Zeichen des Jakobspilgers, sie
diente ihm als Geleitbrief und gab ihm das Recht auf die
Mildtätigkeit der Hospize. Man wird den Jakobspilger nun
für Jahrhunderte an seiner Kleidung erkennen.

Zur Ausstattung gehörten noch die Pilgerflasche und die
schon erwähnten Pilgertasche und Wanderstab. Die Tasche
war ein kleiner Sack aus Tierhaut, die mit einer Muschel
geschmückt war. Der Stab war ursprünglich nichts anderes
als ein Stock zum Schutz vor Hunden und Wölfen und zur
Stütze auf bergigen Wegstrecken. Er war unterschiedlich
lang, hatte am oberen Ende einen Knauf mit Haken, an dem
der Quersack hing, und am unteren Ende eine Eisenspitze.
Die Pilgerflasche, in der die Pilger den Wein
aufbewahrten, den manche Hospitäler ihnen auf den Weg
mitgaben, konnte entweder an den Gürtel oder an den
Wanderstab gehängt werden.

Zum Aufbruch hatte die Kirche ein eigenes Ritual
entwickelt. Der Pilger legte die Beichte ab und kniete
vor dem Altar nieder; dann wurden über ihm die sieben
Bußpsalmen gesungen, dazu noch Litaneien und Gebete.
Pilgerstab und -tasche wurden ihm mit einem eigenen
Segensritus überreicht:

„Im Namen unseres Herrn Jesus Christus. Nimm diese
Tasche als Zeichen deiner Pilgerschaft, damit du
geläutert und befreit zum Grab des hl.Jakobus gelangen
mögest, zu dem du aufbrechen willst, und kehre nach
Vollendung deines Weges unversehrt mit Freude zu uns
durch die Hilfe Gottes zurück, der lebt und herrscht von
Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

„Nimm diesen Stab zur Unterstützung deiner Reise und
dei ner Mühe für deinen Pilgerweg, damit du alle
Feindesscha ren besiegen kannst, sicher zum Grab des
hl.Jakobus ge langest und nach Vollendung deiner Fahrt
zu uns mit Freu de zurückkehrest. Dies gewähre Gott
selbst, der lebt und herrscht von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Amen.“

Zu Ausweis und Schutz auf dem Weg konnte man sich einen
Geleitbrief ausstellen lassen.

Der Pilger zog auf einem der vier Hauptwege durch
Frankreich und ab Puente la Reina jenseits der Pyrenäen
den 600km langen camino frances. Der Weg führte ihn
entlang von Heiligtümern, eine spirituelle Reise von
Gnadenort zu Gnadenort. Unterkunft fand er in Hospizen
und Hospitälern, ab dem 11./12. Jahrhundert konnte er
auch in gewerbsmäßigen Herbergen absteigen. In
Roncesvalles, auf dem Pyrenäenpaß, verrichtete er mit
Blick nach Santiago de Compostela ein Gebet und stellt
ein kleines Kreuz auf. An der Grenze Galiziens, in
Triacastela, bekam er einen Stein, den er zur
Kalkgewinnung nach Santiago mitnehmen mußte. Kurz vor
dem Ziel stand ein kultisches Bad auf dem Programm das
wohl auch aus hygienischen Gründen angesagt war. Vom
Monte del Gozo („Berg der Freude“) erblickte der Pilger
erstmals das ersehnte Ziel. Angelangt in der Stadt, galt
der erste Besuch der Kathedrale. Der Eindruck, den sie
im Pilger hinterließ, ist im „Liber Sancti Jacobi“ bzw.
„Codex Calixtinus“ eindrucksvoll geschildert:

„Diese Kirche erstrahlt im Glanze der Wunder des hl.
Jakobus. Und wirklich, die Gesundheit ist den Kranken
wiedergegeben, der Blinde wurde sehend, die Zunge des
Stummen löste sich, das Gehör wird dem Tauben zuteil,
ein normaler Gang macht Hinkende sicher, Besessene
wurden befreit, und was noch mehr ist die Gebete der
Gläubigen wurden erhört, die Ketten des Sünders fielen
ab, der Himmel öffnete sich denen, die anklopfen,
getröstet sind die Betrübten, und alle fremden Völker,
gekommen aus allen Teilen der Welt, hier versammelt in
großer Menge, bringen dem Herrn ihre Geschenke und Lob
preisungen dar…Jener, der die Rampe durchschreitet und
der in Trübsal heraufgestiegen ist, wird sich glücklich
finden und voll der Freude, nachdem er sich versenkt hat
in die vollendete Schönheit der Kirche.“

Die erste Nacht verbringt der Pilger wachend und betend
in der Tag und Nacht geöffneten Kirche. Die physische
Nähe zum Heiligtum war wichtig; beim Kampf um die besten
Plätze kam es zu mitunter blutigen Raufereien. Am
nächsten Tag durfte er seine Opfergabe darbringen. Nach
dem Morgengeläut begab er sich zur „arca de la obra“,
der „Schatztruhe des Werkes“, neben der ein Wächter mit
einer Rute stand und dem Pilger auf die Schulter schlug.
Auf der Truhe selbst stand ein mit einem Chorhemd
bekleideter Kleriker, eine weitere Person verlas die
Ablässe. Danach forderte der Kleriker die Gläubigen mit
je nach Nationalität unterschiedlichen Formeln auf, ihre
Opfergaben niederzulegen: Geschenke, Wachsspenden und
Geld. In der Kapelle der Könige von Frankreich
beichteten und kommunizierten die Pilger. Spätestens
seit dem 14. Jahrhundert erhielten sie dann eine
Bestätigung über die ordnungsgemäß durchgeführte
Pilgerfahrt. Zum Abschluß begaben sie sich hinter die
Apostelstatue am Jakobusaltar, um dem Heiligen ihre
Verehrung zu bezeugen, mitunter durch einen Kuß des
Standbildes.

Vor der Heimreise erhielt der Pilger als Abzeichen
seiner erfolgten Pilgerfahrt die Jakobsmuschel, die er
sich an Hut oder Mantel heftete. Die Muschel gewährte
Schutz und Ansehen, nach manchen Mirakelberichten heilte
ihre Berührung Krankheiten. Zur Jakobsmuschel als
Pilgerabzeichen erzählt eine Legende von einem Reiter,
der während seiner Pilgerfahrt vor Wegelagerern fliehen
mußte. Dabei überquerte er einen Meeresarm, aus dem er
über und über mit Muscheln bedeckt wieder aufstieg.

5. Das Pilgerwesen im Mittelalter
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Das Pilgerwesen gehört zu den bedeutendsten Phänomenen
der mittelalterlichen Religiosität. Ohne Unterschied von
Stand, Herkunft und Bildung ergriffen alle den
Pilgerstab: Arme und Reiche, Kleriker wie Bauern, Könige
ebenso wie Gelehrte, Männer, Frauen und Kinder. Wir
können davon ausgehen, daß fast jedermann im Hochund
Spätmittelalter, je nach Stand und Vermögen,
Abkömmlichkeit und Devotion, mindestens einmal in seinem
Leben eine Pilgerfahrt zu einem ferneren oder
nahegelegenen Heiligtum unternommen hat.

Ursprünglich meint „peregrinus“ den Fremden, jenen, der
in der Fremde sein Heil sucht. In biblischer Tradition
gilt Abraham, der von seiner Heimat Ur in Chaldäa
fortzieht, als erster Pilger. Das ganze Leben des
Christen kann als Pilgerfahrt gedeutet werden der Christ
ist ausgeheimatet aus dieser Welt und unterwegs zu
seiner ewigen Heimat, die er auf dieser Erde nicht
findet. Die Pilgerfahrt wird zum Sinnbild des Lebens.
Wie der mittelalterliche Mensch nicht seinem bloßen
Vergnügen lebt, sondern eingebunden ist in die
Sinnstiftungen des kirchlich vermittelten Glaubens, so
reist er auch nicht ohne höhere Zweckbestimmung. Als
Pilger ist der Reisende nicht der moderne, Abwechslung
und Erholung suchende Tourist, sondern sucht das Heil,
das in der göttlichen Vergebung für irdische Sünde und
in der Rettung aus erfahrener Not besteht. Einmal am
Ziel seiner Pilgerfahrt angekommen, trifft er auf
Vergebung bzw. auf die Fürsprache und Gnadenvermittlung
eines Heiligen, auf Heilung eines körperlichen
Gebrechens, auf Rettung aus Not.

Pilgern war nicht das einzige sanktionierte Reisemotiv.
Daneben gab es die Missionsreise, die kriegerische
Verteidigung bzw. Ausbreitung des Glaubens (Kreuzzüge)
und den Fernhandel, der seit dem 11. und 12. Jahrhundert
zunehmend von den städtischen Patrizierfamilien
betrieben wurde. Das Pilgern unterschied sich von diesen
eher berufsbedingten Reisemotiven neben der besonderen
spirituellen Zielsetzung auch durch seine
Zugangsmöglichkeit für Angehörige aller Klassen und
Altersstufen.

Spielte bis ins 9. Jahrhundert im Rahmen der
ursprünglichen Vorstellung vom Pilgern als „In-der-
Fremde-Leben“, als asketischer Heimatlosigkeit, der
konkrete irdische Zielort noch eine untergeordnete
Rolle, wird dann die Pilgerfahrt zu einem bestimmten
Ziel hin häufiger. Der Gläubige bricht aus der
Behaustheit seiner vertrauten Raum-Zeit-Konstellation
auf in das unbehauste Leben des Pilgers, dies aber mit
dem Ziel, den heiligen Raum zu erreichen, in dem das
Göttliche sich ihm vergegenwärtigt. Eine Hinwendung zu
den heiligen Stätten zeichnet sich ab, wie zu Rom im 10.
Jahrhundert, zu Jerusalem und Santiago im 11. und 12.
Jahrhundert. (Wenngleich Jerusalem schon früher Ziel
einzelner Pilger war. Berühmt ist der Reisebericht der
Pilgerin Aetheria bzw. Egeria um 400. Jedoch entwickelte
sich eine eigentliche Massenwallfahrt erst ab der
Jahrtausendwende. Jerusalem galt zudem als der
Mittelpunkt der Welt und Ort der Parusie, also der
Wiederkunft Christi am Ende der Zeiten.) Aus dem Wunsch,
Christus nachzufolgen, wird das Bestreben, die Orte
seines irdischen Lebens aufzusuchen oder zu einer Stätte
zu pilgern, die durch ein Apostelgrab geheiligt ist
(Rom: Petrus und Paulus; Santiago: Jakobus).

Hunderte von Kilometern wurden zurückgelegt, um zu einem
dieser drei großen Fernpilgerzentren zu gelangen. Diese
drei „peregrinationes maiores“, von denen der Pilger als
geweihtes Andenken einen in Metall gegossenen
Petersschlüssel (Rom), einen Palmzweig (Jerusalem) oder
aber die berühmte Jakobsmuschel (Santiago) heimbrachte,
übten auf die Gläubigen eine besonders starke
spirituelle Anziehungskraft aus.

Dabei spielte die Reliquienverehrung eine wichtige
Rolle. Bottineau zieht sie geradezu zur Definition von
Pilgern heran: „Pilgern besteht im Mittelalter darin,
sich aufzumachen, um Reliquien und insbesondere einen
heiligen Leichnam zu verehren. Man begab sich zum Grab
eines Märtyrers, eines Apostels oder sogar Christi“
(84). Seit dem vierten Jahrhundert wurden den Reliquien
von Heiligen übernatürliche Kräfte beigemessen. Sie
galten gleichsam als das materielle Vermittlungsobjekt
von Gnade und Heil. Reliquien erlangten dann im
Hochmittelalter eine solche Bedeutung, daß ihnen
mitunter sogar als Zahlungsmittel der Vorrang vor Gold
und Silber gegeben wurde. In der Folgezeit nahm der
Reliquienkult Ausmaße an, die selbst vor einem „frommen
Raub“ nicht zurückschreckten. Es entwickelte sich gar
ein eigener Handelszweig für den Vertrieb, wogegen das
IV.Laterankonzil von 1215 einzuschreiten versuchte.
Reliquien verschafften Schutz, Hilfe, Ansehen und Macht.
Sie konnten politische Ansprüche durchsetzen und
legitimieren. Auch die Erhebung Santiagos zum Erzbistum
zählt dazu der Anspruch wurde mit der Präsenz der
Apostelreliquien begründet. Weil es an Reliquien stets
mangelte, erfand man die zahlreichen indirekten
Reliquien, die ununterbrochen geschaffen werden konnten,
z.B. durch Berührung des Heiligtums mit einem anderen
Gegenstand. Aber nicht nur diese Berührungsreliquien,
sondern auch Erde aus dem Hl.Land, Holz vom Kreuzesstamm
oder von den Ölbergsbäumen oder das von den Kerzen am
Heiligtum herabtropfende Wachs waren als
Verehrungsobjekte äußerst beliebt. Für den gläubigen
Menschen des Mittelalters galten die jeweiligen
Reliquien als echt, wenn sie Wunder bewirkten. Gerade
die Wunderberichte lockten zahlreiche Pilger auf den
Weg. Den Apostelreliquien in Santiago kam in zweifacher
Hinsicht besondere Bedeutung zu: Jakobus war der einzige
im westlichen Okzident begrabene Apostel (das
Matthiasgrab in Trier ist eine spätere Tradition und
erlangte nur regionale Bedeutung), und er war der erste
Märtyrer der Christenheit. Damit hatte sein Kult von
Anfang an eine erhöhte Durchschlagskraft. Außerdem
spielt wohl eine Rolle, daß der Jakobuskult im
Unterschied zum Petruskult in Rom nicht in liturgischen
Formen erstarrt war und keine hierarchische
Vereinnahmung wie durch die römische Papstideologie
erfuhr.

Versucht man, die mittelalterliche Pilgerfahrt nach
ihren unterschiedlichen Motivationen zu typisieren, kann
man drei Grundtypen herausstellen: Pilgerfahrt aus
Devotion, Pilgerfahrt als Buße oder Strafe und die
Delegationspilgerfahrt. Die Pilgerfahrt aus Devotion,
die nach Ausweis der mittelalterlichen Pilgerführer als
die reinste Form gilt, läßt sich in Bittund
Dankpilgerfahrt scheiden. Die vielen Wundergeschichten,
etwa im zweiten Buch des „Liber Sancti Jacobi“ bzw.
„Codex Calixtinus“, lassen beide Typen deutlich
erkennen. Körperliche oder andere Nöte motivieren häufig
zu einer Bittwallfahrt, bereits durch ein Wunder
Gerettete pilgern zu einem heiligen Ort, um dem Heiligen
zu danken und vielfach, um ein Gelübde zu erfüllen.
Devotionspilger folgten dem bekannten Ruf des Heiligen;
für sie dürfte der Wunsch, dem Grab und Körper des
Verehrten physisch nahe zu sein, ein bedeutendes Motiv
zum Antritt einer Pilgerfahrt gewesen sein. Sicherlich
darf man oft auch „außerreligiöse“ Motive wie Reiselust
und Fernweh in Rechnung stellen, für die Santiago-Fahrt
wohl auch die Faszination der Reise an den äußersten
westlichen Rand der Erde (Kap Finisterre finis terrae:
Ende der Welt). Der religiöse Hauptanstoß für den
Aufschwung des Pilgerwesens darf jedoch in der
Wundergläubigkeit des mittelalterlichen Menschen gesehen
werden.

Diesen freiwillig unternommenen Pilgerfahrten läßt sich
der Typus der zunächst von kirchlichen, dann auch von
weltlichen Instanzen verordneten Bußbzw.
Strafpilgerfahrt gegenüberstellen. Es handelte sich
dabei zuerst um eine Praxis des kanonischen Rechts, die
sich in der Karolingerzeit entwickelt hatte und über
Jahrhunderte lebendig blieb. Ab dem 13. Jahrhundert
werden auch von weltlichen Instanzen, besonders im
belgisch-niederländischen Raum, später auch in den
Hansestädten, Strafwallfahrten nach Santiago verhängt.
Zwischen 1415 und 1513 erfolgten allein in Antwerpen
etwa 2500 Verurteilungen zu verschiedenen Pilgerfahrten.
Nicht umsonst hat man hier von einer Art Sozialhygiene
gesprochen (Steven Runciman). Es blieb nicht aus, daß
dieser Typus von Pilgerfahrt auf das Pilgerbild im
allgemeinen negativ abfärbte. Im Extremfall wurden die
Begriffe „Pilger“ und „Verbrecher“ synonym. Von daher
wird es auch verständlich, warum die Katholischen Könige
Spaniens im 16. Jahrhundert den Pilgerweg nach Santiago
auf eine vier Meilen breite Zone entlang dem alten
camino frances begrenzten. Wer diese Zone verließ, hatte
keinen Anspruch auf die Vorrechte des Pilgerstatus. Die
Nationalstaaten nahmen das Pilgerwesen unter eine
strengere Kontrolle, von den Pilgern wurden vielfach
Geleitbriefe und Ausweisschreiben aus ihrer Heimat
verlangt.

Eine dritte, ebenfalls seit dem Spätmittelalter häufiger
anzutreffende Form ist die Delegationspilgerfahrt, bei
der jemand anstelle eines anderen oder im Auftrag einer
Gruppe reist. Die stellvertretende Pilgerfahrt bzw. die
testamentarisch angeordnete „postume“ Fahrt machten es
möglich, daß es berufsmäßige Pilger gab, die nach einem
festen Tarif bezahlt wurden.

Über den glaubensund mentalitätsbedingten Faktoren wie
der Reliquienfrömmigkeit und der Wundergläubigkeit
dürfen jedoch die politischen Faktoren nicht übersehen
werden, die die Pilgerfahrt nach Santiago de Compostela
im Hochmittelalter nicht unwesentlich förderten hier vor
allem die Verbindung von Reconquista und
Kreuzzugsbewegung.

6. Reconquista und Kreuzzugsbewegung
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Weitere wichtige Faktoren, die zum Aufschwung der
Santiago-Fahrt beitrugen, waren die Reconquista und die
Kreuzzugsbewegung. Ab der zweiten Hälfte des 11.
Jahrhunderts wird den Reconquistakämpfern der gleiche
Ablaß wie den Jerusalemfahrern zugesagt, bald rückt die
Reconquista in die Nähe der Kreuzzüge zur Befreiung des
Hl.Grabes.

Unter Reconquista versteht man die christliche
Rückeroberung der von den Mauren besetzten Iberischen
Halbinsel. Sie erfolgte grob skizziert in drei großen
Wellen ab 722. In einer ersten Welle bis ca. 1000
erstreckte sie sich bis zum Duero und der Spanischen
Mark. Die zweite Welle umfaßt die Eroberung von Coimbra
(1064), Toledo (1085), Saragossa (1118), Lissabon (1147)
und Tortosa (1148). In der dritten Welle wurden die
Balearen (1229), Valencia (1238), Córdoba (1236) und
Sevilla (1248) zurückerobert. Mit dem Fall Granadas
(1492) schließt die Reconquista. Von Anfang an spielten
religiöse Motive eine Rolle, die ab der Mitte des 11.
Jahrhunderts durch die Verschmelzung mit dem
Kreuzzugsgedanken neue Tragweite bekommen.

Zwei Momente sind für die Bezeichnung eines heiligen
Krieges als Kreuzzug konstitutiv: Die Anerkennung durch
die amtliche Kirche (Papst) und das Versprechen eines
Ablasses. Legt man beide Kriterien zugrunde, kommt
spätestens seit dem Ende des 11. Jahrhunderts der
Reconquista der Chara3ter eines Kreuzzuges zu. Sollten
mit den Kreuzzügen die Pilgerwege ins Hl.Land gesichert
und das vom Islam eroberte Hl.Grab in Jerusalem
zurückgewonnen werden, konnte mit der Reconquista
Spanien von der islamischen Besetzung befreit und
mögliche Vorstöße des Islam gegen den christlichen
Norden grundsätzlich unterbunden werden. Diese
Verbindung wurde kirchenamtlich hergestellt, als Papst
Urban II 1089 den Reconquistakämpfern den gleichen
Nachlaß der kirchlichen Bußstrafen gewährte, wie er mit
einer Jerusalemwallfahrt verbunden war. Weitere Päpste
erließen ähnliche Urkunden. Übrigens hatten auch die
Kreuzfahrer im engeren Sinn Beziehungen zum hl.Jakobus.
Seit dem zweiten Kreuzzug machten die auf dem Seeweg von
Nordeuropa ziehenden Kreuzfahrer fast ausnahmslos
Zwischenstation in Santiago de Compostela.

Bei der Reconquista galt Jakobus als der
Schlachtenhelfer, ikonographisch dargestellt als
„Matamoros“ (Maurentöter). Im „Cantar del mio Cid“, dem
spanischen Nationalepos, heißt es in Vers 730: „Die
Mauren rufen Mohammed, die Christen Santiago“(Los moros
llaman Mafómat e los cristianos Santi Yague). Noch im
16. Jahrhundert beflügelte dieser Schlachtruf die
Conquistadores der Neuen Welt. Ein Niederschlag dessen
sind beispielsweise die Städtenamen Santiago de Cuba,
Santiago de Chile etc.

Vor allem französische Ritter beteiligten sich an der
Reconquista. Sie erwiesen dem Schutzpatron ihre Reverenz
durch einen Besuch seines Grabes. Oft siedelten sie sich
auch in den wiedereroberten Gebieten an, ebenso in den
neu entstehenden Städten entlang dem Pilgerweg zum
galizischen Heiligtum.

7. Zum Rechtsschutz des Pilgers
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Die mittelalterliche Pilgerbewegung brachte vielfältige
rechtsund sozialpolitische Veränderungen mit sich. Im
vorwiegend personenund personenverbandsbezogenen Recht
des Mittelalters war der Pilger als Fremder aus seinem
heimischen Rechtsverband herausgelöst und bedurfte wie
auch Scholaren und Kaufleute des besonderen kirchlichen
Schutzes. Die kirchlichen Bemühungen um den Pilgerschutz
sind alt, doch sie verdichten sich bezeichnenderweise ab
der Jahrtausendwende. Es gibt enge Verbindungen zwischen
der Gottesfriedensbewegung, der Treuga Dei, und dem
Pilgerschutz. Unter Papst Nikolaus II formuliert eine
römische Synode 1059 den Pilgerschutz als päpstliches
Recht. Das erste Laterankonzil 1123 stellt bei Strafe
der Exkommunikation Leib und Gut des Pilgers unter
kirchlichen Schutz. Bereits um die Mitte des 12.
Jahrhunderts gibt es auch im weltlichen Bereich ein
geradezu international anerkanntes Pilgerrecht. Die
Pilgerkleidung und die Pilgerabzeichen boten Schutz bis
dahin, daß 1118 der tatkräftige Erzbischof von Santiago,
Diego Gelmírez, zwei Gesandte mit 120 Pfund Gold als
Pilger verkleidet nach Rom schickte. Die Pilger waren
teilweise von Zöllen befreit, Steuern und Schulden
konnten für die Zeit der Abwesenheit gestundet werden.
Das spanische Recht dea 13. Jahrhunderts bekräftigt
immer wieder den allgemeinen Pilgerschutz, bestätigt den
Pilgern das Testamentsrecht und die einjährige
Aufbewahrungspflicht für ihre Habe, falls sie unterwegs
ohne Testament sterben, und droht betrügerischen
Herbergswirten hohe Strafen für falsche Maße und
betrügerisches Anlocken der Pilger an. Lokale
Stadtrechte konkretisieren den Pilgerschutz weiter.

Die vielfältigen Bemühungen um Schutz und
Rechtssicherheit machen jedoch umgekehrt auch deutlich,
wie gefährdet der Pilger auf seinem Weg durch die Fremde
war. Die Klage des berühmten Pilgerführers aus dem 12.
Jahrhundert, des „Liber Sancti Jacobi“ bzw. „Codex
Calixtinus“, über betrügerische Wirte, räuberische
Kleriker, unehrliche Geldwechsler, ungerechte Zöllner,
Straßenräuber und Wegelagerer kam nicht von ungefähr.
Besondere Probleme warf die Beteiligung von Klerikern an
der Pilgerfahrt auf. Sie bedurften einer besonderen
kirchlichen Erlaubnis. Ohne eine Bescheinigung ihres
Bischofs war es ihnen nicht gestattet, die Messe zu
lesen und die Sakramente zu spenden. Auch hier führt der
„Codex Calixtinus“ ein bezeichnendes Beispiel an: Auf
den Pilgerwegen nach Vézelay, Santiago, Rom und
St.Gilles gäbe es falsche Priester in Menge, die Pilgern
die Beichte abnähmen und ihnen dann als Buße
auferlegten, beispielsweise dreißig Messen lesen zu
lassen. Diese aber sollte der Pilger gegen
entsprechendes Entgelt bei einem Priester bestellen, der
wirklich keusch und arm lebe und kein Fleisch esse. Daß
die bußfertigen Pilger dann dem angeblichen Beichtvater
zahlten, da er sich als solchermaßen sittenreiner
Priester anbot, und so von ihm geprellt wurden, braucht
kaum eigens betont zu werden.

Überblickt man die Rechtsbestimmungen zum Pilgerschutz,
zeigt sich, daß die Pilger Privilegien, also Freiheiten
im mittelalterlichen Sinne, erhalten haben. Diese
Freiheiten werden ihnen ohne Ansehen des Standes
gewährt, was angesichts der mittelalterlichen, pyramidal
verfaßten Gesellschaftsordnung zu einem gewaltigen
Ansteigen der Zahl der Pilger auf den Straßen Europas
beitrug.

8. Aufnahme und Versorgung der Pilger
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Ein solcher „Massentourismus“ bedurfte einer eigenen
Infrastruktur. Die alte abendländisch-christliche
Tradition der Gastlichkeit sah sich neuen
Herausforderungen und entsprechenden Transformationen
ausgesetzt.

Die Gastfreundschaft für Fremde und Pilger hat biblische
Wurzeln. Immer wieder wird die Ermahnung aus Hebr 13,2
zitiert: „Vergeßt die Gastfreundschaft nicht; denn durch
sie haben einige, ohne es zu merken, Engel beherbergt.“
Die Benediktsregel ordnet im 53. Kapitel unter Verweis
auf Mt 25,35 an: „Alle Gäste, die zum Kloster kommen,
werden wie Christus aufgenommen; denn er wird einst
sprechen: Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt.
Allen erweise man die ihnen gebührende Ehre, besonders
den Glaubensgenossen und den Pilgern.“

Die ursprüngliche Form der Gastlichkeit ist die Aufnahme
im Kloster. Die Zunahme der Pilgerzahlen und die
allgemeine Mobilität im Hochmittelalter machten neue
organisatorische Anstrengungen nötig. War bis zur Mitte
des 11. Jahrhunderts die Beherbergung Sache der Klöster
und nächtigten die Pilger oft auch in Kirchen bzw. deren
Vorhallen, so zeigen sich um die Wende vom 10. zum 11.
Jahrhundert erste Spuren einer neuen Gründungswelle von
Hospitälern und Hospizen, die zumeist Klöstern
zugeordnet sind. Für den Zeitraum von ca. 950 bis 1050
liegen fünf Belege für solche Hospize vor: in Sahagún,
Villa Vascones, Arconada, Nájera und St. Domingo de la
Calzada, in denen der Pilger kostenlose Unterkunft fand.
Danach nimmt die Zahl in ganz Europa signifikant zu. Die
Gründungswelle entlang den Pilgerund Handelsstraßen nach
Italien und Spanien breitete sich über ganz Europa aus
und erfaßte im 13./14. Jahrhundert fast alle Städte und
teilweise selbst Dörfer.

Bis ins 11. Jahrhundert war die Pilgerbeherbergung an
den Straßen über die Pyrenäen nach Santiago de
Compostela weitgehend Sache der wenigen
Benediktinerklöster. Sie beherbergten die Pilger sowohl
in den Klosterhospitälern als auch in weiteren an der
Straße gelegenen Hospizen. Seit der Mitte des 11.
Jahrhunderts nimmt die Zahl der Hospitäler zu. Neben die
Klostereinrichtungen treten nun immer mehr selbständige,
von Königen, Bischöfen, Adligen, reichen Leuten,
geistlichen Ritterorden und Bruderschaften gestiftete
Hospitäler. Die Paßhospitäler von Somport und
Roncesvalles um 1100 und 1132 gegründet und von
Augustinerchorherren betrieben waren zwei besonders
wichtige Glieder einer ganzen Kette an den
meistbegangenen Pyrenäenpässen. Seit dem 10. Jahrhundert
entstanden an den Pilgerstraßen auch zahlreiche
weltliche Kolonistensiedlungen, seit dem 11. Jahrhundert
eigentliche Städte, die ebenfalls der Gastlichkeit
dienten. Manche verfügten über Pilgerhospize wie Puente
la Reina und Estella. So entwickelte sich hier bis gegen
1200 ein ganzes Beherbergungssystem für die Jakobspilger
mit 100 bis 300 Hospizen. Angesichts der Dichte der
Hospitäler ist es denkbar, daß Pilger und andere
Reisende nach jeder Tagesreise ein Hospiz oder Hospital
für die Nacht aufsuchen konnten. Die Pilger konnten die
Unterkünfte leicht ausfindig machen, auf dem Santiagoweg
waren sie mit dem Pilgerzeichen, der Jakobsmuschel,
gekennzeichnet. In den Paßund Berghospitälern läutete
man zur Orientierung der Pilger mit einer Glocke. In San
Salvador gab es eigens einen Eremiten, der den Pilgern
für das letzte anstrengende Wegstück nach Roncesvalles
eine Erfrischung reichte. In der regnerischen,
unwirtlichen Landschaft um Foncebadón errichtete man
Wachttürme zur Wegweisung und bestellte Führer, die die
Pilger zu geleiten hatten.

Soweit die Betreuer im Hospital ausreichten, wurden den
Ankömmlingen die Hände und Füße gewaschen von alters her
Brauch zur Erholung nach langen Märschen und zugleich
als ritueller Akt Erinnerung an die Fußwaschung im
Abendmahlssaal. In Santiago selbst registrierte man
Namen, Herkunft und mitgeführte Habe der kranken Pilger
als Sicherung gegen Diebstahl und für den Fall des
Todes. Der Aufenthalt gesunder Pilger durfte meist nur
eine Nacht, höchstens aber drei Nächte dauern. Zur
Kontrolle markierte man mit einer Einkerbung den
Pilgerstab. In Städten mit mehreren Hospitälern gab es
immer wieder Mißbrauch der Gastlichkeit. In Astorga
wurden beispielsweise 1521 Aufseher angestellt, um die
Pilger gleichmäßig auf die Häuser zu verteilen und zu
verhindern, daß sie, von einer Unterkunft zur nächsten
wechselnd, zu lange in der Stadt blieben. Betten und
Bettwäsche waren meistens vorhanden. Sehr viele
Hospitäler zählten nach dem Vorbild der zwölf Apostel
zwölf Betten. Die Betten wurden in der Regel mit zwei
oder mehr Gästen belegt. Gelegentlich gab es auch
besondere Krankenräume. Herdfeuer und damit die
Gelegenheit, die Kleider zu trocknen, sowie Licht wurden
fast überall geboten. Aus dem 16. Jahrhundert datiert
eine Bemerkung aus dem Hospital Real in Santiago über
nach Geschlechtern getrennte Wärmeräume, „denn die
Qualität derer, die ins Hospital kommen, ist sehr
gefährlich“… Die in Roncesvalles rühmend erwähnte
Möglichkeit , sich rasieren, die Haare waschen und die
Sandalen flicken zu lassen, muß etwas Ungewöhnliches
gewesen sein. Überhaupt war gutes Schuhwerk wichtig. Aus
Astorga liegt eine Notiz aus dem 13. Jahrhundert darüber
vor, daß die Schuhmacher für Arbeit an Feiertagen von
Strafe befreit waren, wenn sie für Pilger arbeiteten.
Fromme hinterließen in ihrem Testament häufig eine
Schenkung für Pilgerschuhwerk. Wo in den Hospizen
Verpflegung geboten wurde, bestand sie meist aus Brot,
Wasser und Gemüse. In gut ausgestatteten Hospizen wie
Roncesvalles kann auch Wein und etwas Fleisch auf den
Tisch gekommen sein. Wo geistliche Hilfe zur Verfügung
stand, unterstützte man die Gäste auch beim Abfassen des
Testaments, sorgte für ein ordentliches Begräbnis und
bewahrte hinterlassene Habe ordnungsgemäß auf. In
Santiago de Compostela hatte schon 1128 der energische
Erzbischof Diego Gelmírez einen eigenen Pilgerfriedhof
einrichten lassen.

Neben diesen ursprünglich aus den Klöstern erwachsenen
bzw. ihnen zugeordneten Hospitälern gab es aber auch
gewerbsmäßige Herbergen. Aus Gastfreundschaft und
unentgeltlicher Gastlichkeit entstand seit dem 11./12.
Jahrhundert die gewerbliche Gastlichkeit gegen
Bezahlung. Die Herbergen waren bald ein florierender
Gewerbezweig am Santiagoweg. In den größeren Städten
häufte sich ihre Zahl, bisweilen gab es eine eigene „Rua
de los albergueros“ (Straße der Gastwirte). Allerdings
zogen sie auch Kritik auf sich. Besonders der „Liber
Sancti Jacobi“ bzw. „Codex Calixtinus“ aus der ersten
Hälfte des 12. Jahrhunderts spart in seiner Predigt
„Veneranda Dies“ nicht mit Angriffen auf die seiner
Meinung nach vor nichts zurückschreckende Gewinnsucht
der Wirte:

Manche Wirte gehen den Pilgern vor die Städte entgegen,
versprechen ihnen gute Unterkunft und geben ihnen dann
eine schlechte. Sie verjagen die ersten Besucher, die
schon bezahlt haben, wenn andere, besser zahlende Gäste
erscheinen. Zum Probieren geben sie guten Wein,
verkaufen dann aber schlechten Wein oder Most und
verwenden falsche Maße. Als Schlaftrunk geben sie den
besten Wein, um die Gäste zu berauschen und im Schlaf
auszurauben. Oder sie vergiften gar die Gäste, um in den
Besitz des Nachlasses zu gelangen. Sie verkaufen den
Pilgern Fleisch und Fi sche, die schon vor drei Tagen
gekocht wurden, und machen sie damit krank, oder sie
geben ihnen das erste Essen gratis, verkaufen aber
nachher die Opferkerzen zu teuer. Überhaupt verlangen
sie für Wein, Fleisch, Mehl und Ker zen im Vergleich zum
Markt zu hohe Preise. Sie betrügen die Gäste beim
Geldwechseln und arbeiten mit Wechslern und
Kirchenwächtern zusammen, um mit ihnen die an den
Pilgern erzielten Wechselgewinne und Almosen zu teilen.
Schließlich behalten sie das Geld von in der Herberge
verstorbenen Pilgern, statt es als Almosen für Arme und
Geistliche zu verwenden.

Der Strom der Pilger hatte aber nicht nur Auswirkungen
auf die neue Form der Beherbergung. Zugleich verband er
Westeuropa in ökonomischer Hinsicht. Die Pilgerstraße
wird zur Handelsstraße.

9. Ökonomische Implikationen der Pilgerfahrt
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Der Pilgerstraße kommt eine nicht zu unterschätzende
Bedeutung für die ökonomische Entwicklung Spaniens und
seinen Anschluß an Westeuropa zu. Das 11. und das 12.
Jahrhundert sind von einschneidenden Veränderungen
gekennzeichnet. Im monastischen Bereich wird die
cluniazensische Reform eingeführt, wichtige Klöster
gliedern sich in den Verband von Cluny ein. Der
hispanische Ritus in der Liturgie wird durch den
römischen abgelöst, ebenso die westgotische Schrift
durch die französische. Insgesamt ist eine deutliche
kulturelle Orientierung nach Westeuropa hin
festzustellen. Viele Westeuropäer siedeln sich in
Nordspanien an. Dies wird gefördert durch die
kommerzielle Entwicklung im Zusammenhang mit der
Pilgerfahrt. Der Pilgerweg wird zur großen Handelsstraße
Nordspaniens. Gleichzeitig ist in Europa ein großer
Bevölkerungszuwachs und eine wachsende Mobilität in
allen Schichten zu verzeichnen. Im Zusammenhang mit der
Reconquista kommt es zur Wiederbesiedelung befreiter
Gebiete. Pilgerfahrt, Handel, Reconquista und
Wiederbesiedelung kennzeichnen so das unruhige 11./12.
Jahrhundert im christlichen Westen.

Handel und Gewerbe blühen entlang dem Pilgerweg auf.
Straßen und Brücken werden in großer Zahl gebaut. Die
Könige fördern mit Privilegien die Ansiedlung von
Ausländern. Viele Städte mit hohem Ausländeranteil
entstehen, oft mit eigenen Ausländervierteln, den
„barrios francos“, so in Jaca, Estella, Puente la Reina,
Pamplona, Monreal, Nájera, Burgos etc. Dort entstehen
wichtige Märkte, die zu kommerziellen Zentren werden.
Die Bezeichnung der Ausländer als „francos“ meint nicht
nur Franzosen, die gleichwohl einen hohen Anteil
stellen; darunter fallen ebenso Lombarden, Deutsche,
Engländer, Flamen, Katalanen, Provencalen, Normannen,
Burgunder etc. Im Gegensatz zu der einheimischen
Bevölkerung, die ihr Auskommen vor allem im Heer und in
der Landwirtschaft findet, sind die Neubürger Händler
und Gewerbetreibende.

Vor dem Hintergrund des Niedergangs des Kalifats von
Córdoba und entscheidend gefördert durch die Öffnung
nach Europa mittels der Pilgerfahrt vollzieht sich im
Hochmittelalter die ökonomische Transformation Spaniens
von einer armen Agrarkultur hin zum aktiven Handel mit
Europa. Bedingt durch die Kreuzzüge und die Pilger
ergeben sich enge Handelsbeziehungen zwischen den
spanischen Höfen und Flandern; das Siegel der spanischen
Kaufleute in Brügge wird später das Bild des Jakobus
zeigen. Am Pilgerweg profitieren die Klöster von der
Pilgerfahrt: „Denn wenn man auch die Armen nur aus Liebe
zu Christus versorgen mußte, fehlten doch nicht reiche
Reisende und Pilger, die generös für die Gastlichkeit
zahlten.“ So mancher verband auch die Pilgerfahrt mit
einer Handelsreise.

Santiago de Compostela selbst wurde zu einem bedeutenden
Warenumschlagplatz mit eigener Flotte zum Schutz seiner
Handelsinteressen. Gehandelt wurden vor allem
Pilgermuscheln (Die Jakobsmuschel wurde von lizenzierten
Devotionalienhändlern verkauft. Im 12. Jahrhundert gibt
es über 100 lizenzierte Verkaufsstände; 1259 erläßt
Papst Alexander IV ein Dekret, das den Verkauf dieser
Muschel außerhalb Santiagos untersagt.), Wein, Schuhe,
Lederbeutel, Riemen, Gürtel und medizinische Kräuter. Da
Pilger aus aller Herren Länder zusammenströmten, kam den
vielen Bankiers und Geldwechslern eine wichtige Aufgabe
zu. Die Stadt schmückte sich mit einer großen und
glanzvollen Kathedrale, die durch die Schenkungen und
Gaben der Pilger finanziert wurde. So erzählt eine
Wundergeschichte, daß während eines Seesturms einige
Schiffspassagiere eine Pilgerfahrt nach Santiago
gelobten, andere eine Geldspende. Nach erfolgter Rettung
durch den hl.Jakobus wurde dann ein Mitreisender
bestimmt, der nach Santiago pilgerte und das Geld am
Schrein des Apostels ablieferte.

Zwischen der Pilgerfahrt und dem ökonomischen Aufschwung
bestand eine Wechselwirkung. Ohne größere Pilgermassen
drohte ein Rückgang von Handel und Pilgergewerbe.
Umgekehrt war ohne zunehmenden Handel und Gewerbe keine
materielle Bewältigung der Pilgerbedürfnisse möglich und
drohte Stagnation oder sogar Rückgang der
Pilgerbewegung.

10. Die Wege
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Der „Liber Sancti Jacobi“ bzw. „Codex Calixtinus“
schreibt in seinem ersten Kapitel: Vier Wege führen nach
Santiago, die sich zu einem einzigen in Puente la Reina
in Spanien vereinen; einer geht über St.Gilles,
Montpellier, Toulouse und den Somportpaß; ein anderer
über Notre-Dame in Le Puy, Ste.Foy in Conques und
St.Pierre in Moissac; ein weiterer über Ste.Marie
Madeleine in Vézelay, St.Léonard in Limousin und die
Stadt Périgueux; ein letzter über St.Martin in Tours,
St. Hilaire in Poitiers, St.Jean in Angély, St.Eutrope
in Saintes und die Stadt Bordeaux. Diejenigen Wege, die
über Ste.Foy, St.Léonard und St.Martin führen,
vereinigen sich in Ostabat, und nach dem Überschreiten
des Cispasses treffen sie in Puente la Reina auf den
Weg, der den Som portpaß überquert; von dort gibt es nur
einen Weg bis Santiago.

Der Weg nach Santiago de Compostela ist ein Weggeflecht,
das sich über ganz Europa zieht, in vier großen Wegen
von Paris, Vézelay, Le Puy und Arles durch Frankreich
zieht, bei Roncesvalles und Somport die Pyrenäen
überquert und sich bei Puente la Reina zur großen
Pilgerstraße, dem camino frances durch Nordspanien,
vereinigt. Die romanische Kunst hat entlang dieser
Pilgerstraßen bedeutende Kunstwerke geschaffen.

Pilger aus dem Norden und dem nördlichen
Mitteldeutschland suchten hauptsächlich über Köln und
Aachen (die sog. „Niederstraße“), zuweilen auch über das
Moseltal, Anschluß an die Wege von Paris/ Tours bzw.
Vézelay/St.Gilles. Pilger aus dem südlichen
Mitteldeutschland und aus dem oberdeutschen Raum zogen
die „Oberstraße“ über Einsiedeln und Genf ins Rhonetal,
von dort dann die Straße nach Le Puy. Vom Norden
Deutschlands und von England aus wurden oft
Pilgerfahrten per Schiff unternommen.