Was macht einen…

Pilger aus?

Würde ich mich als Pilger betrachten? Ich sehe mich als Wanderer. Das ist eine schwierige Frage, die ich nicht so einfach beantworten kann, da ich mir vorher keine näheren Gedanken oder tiefergehende Informationen gemacht und beschafft habe. Diese Frage, wie ich mich bezeichnen möchte, stellte ich mir nie. Auch habe ich die Bezeichnung „Pilger“ immer in Anführungsstriche gestellt, um vielleicht meine Unentschlossenheit zu untermalen. Aber hauptsächlich vielleicht deshalb, weil ich mich vorbelasten wollte. 

Mit Pilgern verbinde ich eigentlich mehr Leiden und auch das Ziel für seine Sünden zu büssen, die man bis dahin begangen hat. Ich mehr Wanderer als Pilger, der auch ab und an eine Kirch aufsucht, um in sich zu gehen. 

Viele Pilger werden sicherlich den Südenablass durch die Ankunft in Santiago und den Erhalt der Compostela als eigentlichen Grund und Motivation angeben. Meine Ansicht ist auch, dass Pilgern wandern mit einer spirituellen Dimension ist, für den einen mehr und für den anderen weniger. Schlussendlich muss jeder für sich entscheiden, warum weshalb wiesso und ist niemanden ausser sich selbst Rechenschaft schuldig.

Erkenntnisprozess

Wie kann ich versuchen, das Leben auf dem Jakobsweg in den Alltag zu übernehmen, übertragbar zu machen?

Viele sagen, dass der Jakobsweg erst in Santiago beginnt. Und dann kommt das,
was man vielleicht auf und während des Camino erwartet hat: der Erkenntnisprozess!

Langstrecke…

Zwei „Langstreckenläufer“, gestartet in Thüringen, sagten, dass es fazinierend war, in den Frühling hineinzulaufen. Ein gewagter Vergleich mit den Beschreibungen von Hermann Hesse auf seinen Wanderungen nach Italien. Den Übergang in den Frühling zu erleben, in eine neue Jahreszeit hineinzulaufen, die Veränderungen zu erleben, zu erfühlen. Erkenntnisse sind nicht unbedingt das Ziel, sondern das Denken einstellen. Sich loslösen vom Alltag, jeden Schritt und jeden Augenblick des Weges als ein Teil des Lebens geniesen, wann immer, wo immer. Man hat nichts anderes zu tun als zu geniesen.

Am Abend vor…

der Herberge. Der Blick schweift zurück. Es ist ein Weg. Es gibt keine verschiedenen Möglichkeiten ihn zu gehen. Das ist das was den Camino ausmacht. Im Alltag gibt es verschiedene Dinge zu tun, verschiedene Sachen, an die ich denken muss. Auf dem Camino gibt es nur diesen Weg und mich, der mich nach Santiago führt. Dinge, die rechts und links vom Weg liegen, kann ich wahrnehmen oder einfach an ihnen vorbeigehen. Es gibt keine schwierigen Entscheidungen zu treffen. Es gibt nur die Möglichkeit den Jakobsweg als solches zu erleben und auszukosten. Die Vielheit des Alltags verschwindet. Es gibt nur diese eine Erfahrung des geraden Weges die zum Ziel führt. Das ist offenbar das, was den Menschen in unserer Zeit fehlt: Ein klarer Weg! Hier wird die Wahrheit deutlich, dies macht die Menschen hier so glücklich, in dieser kurzen Zeit auf dem Camino, wo spürbar ist, sich auf dem richtigen Weg zu befinden. Vielleicht nur eine Illusion, aber eine schöne und glücklich machende Illusion, für einige Tage, einige Wochen.

Der Beginn

Der Beginn der Wanderung und die Gedanken, die davon noch übrig sind. Hätte ich eigentlich zu Anfang schreiben sollen, aber wie so vieles im Leben, erinnere ich mich erst jetzt an die Anfänge.

Ich saß im Flugzeug und es gab Käsebrötchen. Meine Wanderung begann. Erst jetzt, hier im Flugzeug, nach dem Einchecken im Flughafen, nach dem Verabschieden von J., der mich nach Hahn gefahren hat (Thanks, Buddy!) beginnt meine Wanderung. Eine Reise zum Ende der Welt begann. Eine Reise, von der viel zu lesen war, viele sie bereits gemacht haben, viele aus unterschiedlichsten Motivationen und Beweggründen eine lange Auszeit auf sich genommen haben. Der Flug sollte zweieinhalb Stunden dauern; dann bin ich fast dort. Ich wusste nicht, was mich wie und wo erwartet. Etwas beruhigend war zu sehen, dass eigentlich die überwiegende Mehrheit der Passagiere offenbar das gleiche wie ich vor hatten. Rucksäcke, Wanderstäbe, Wanderschuhe wohin ich schauen konnte. Ich bräuchte mich eigentlich nur dem Herdentrieb anschliessen und den anderen folgen, dachte ich mir.

Das Gefühl der Unwissenheit macht sich bereit. Habe ich mich genügend informiert? Habe ich genügend Bücher gelesen, fehlt mir irgendwas. Normalerweise informiert man sich ja über sein Reiseziel. Man liest sich ein, kennt sein Ziel bevor man überhaupt dahin aufgebrochen ist. Bei einigen Reisen in der Vergangenheit habe ich mir einiges angelesen, angeschaut und angehört. Verstanden geschweige begriffen hatte ich nichts. Das Angelesene hat sich wie ein Filter vor die Eindrücke gelegt und so Erfahrung und Vorstellungskraft betäubt. Dieses Mal wollte ich es anders machen. Ich wusste nur aus meinem „Tagsroutenführer“ etwas über die Landschaft und Etappen und was ich mir bei meinem „Steigbügelhelfer“ Hape angelesen habe. Gut, zugegeben, zwei Diavorträge gaben mir im November „den Rest“ zur Entscheidungsfindung, aber wird alles so sein, wie jemand das vor 7 Jahren erlebt hat und wie es von Profifotografen eingefangen wurde? Ich muss mich selbst davon überzeugen, war einer der Gedanken bei der Landung in Biarritz. Ich werde einen freien Fall der Eindrücke und Erlebnisse haben. Unbelastet, unvoreingenommen, unverbaut. Ohne grosse Diskussionen und Parallelen zu anderen. Das klingt jetzt alles etwas esotherisch, aber war und ist ein guter theoretischer Überbau für mich, da ich keine Lust habe, tiefgründigere Gründe zu ergründen und den altklugen Bildungsbürger zu spielen. Es wird bestimmt auch eine Reise der Zufälligkeiten werden. Ein schöner Vorteil der Wanderung ist, dass es eine kostengünstige Reise sind wird. Somit auch ein ideales Ziel für die kostenverstörte, von Zukunftsängsten geplagte Seele. Was soll ich also bleischwer und perspektivleer zuhause herumhängen, wenn man eine spannende Wanderung selbst erleben kann, deren Ausgang ungewiss ist. Ungewiss in Hinblick auf Veränderungen in der Landschaft, den Menschen um sich herum und in und an sich selbst. Für eine Flucht aus dem trostlosen Jammertal ist der Camino Frances das richtige Ziel. Dort sieht man, dass noch viel einfacher zugehen kann. Es beschränkt sich der Tagesablauf auf nur 4 Punkte: Essen, Trinken, Schlafen und Laufen! Mehr nicht… und man ist ausschliesslich sich selbst verantwortlich. Dieser Weg holt einen auf den Boden zurück, machen Mut und Hoffnung.

gut verankert…

Ich stelle fest, dass der Camino eine gut verankerte, gut organisierte Sache ist. Nur ich, der ihn zum ersten Mal geht, erlebt ständig das Neue, Erstaunliche; auch vielleicht auf den ersten Blick negatives, das der Veränderung bedarf.

Ich bin gespannt, wie ich den zweiten Camino empfinde, wenn ich ihn 2009 gehen darf/kann/sollte.

Bewusst sein…

Nach und nach finde ich mich damit ab, dass es einen Kampf, eine Schlacht zu schlagen gibt: einen wirklichen und echten Weg zu gehen. Dieser Fussmarsch, all das, was in meinem Inneren geschieht, reisst mich gewaltsam aus einem Delirium: Ich muss gehen, ich bin noch nicht angekommen; das ist eine notwendige Anstrengung, die ich akzeptieren und auf mich nehmen muss.

der Camino entscheidet

…es hat mal jemand die geplanten Etappten aufgezählt, daraufhin hat ein anderer am Tisch gesagt: „Du denkst, dass du den Camino machst, aber in Wirklichkeit macht er dich. Der Camino entscheidet!“

An meiner Art zu wandern ist etwas falsch, vielleicht liegt es an einem Gefühl, mit mir selbst im Wettstreit zu liegen, dem Bedürfnis, mich zu beeilen, dem Anspruch, die zurückzulegende Strecke schnell hinter mich zu bringen. Ich weiss nicht, woran das liegt: vielleicht an der Gewohnheit, Pflichten schnell zu erledigen; oder an dem Bedürfnis nach Resultaten. Dabei fühlt man sich in jedem Augenblick wieder auf sein wirkliches Maß zurechtgestutzt: in seinen Ansprüchen und Möglichkeiten, in dem, was man wirklich ist, in der Aufassung vom Pilgerdasein, das auch aus dem Weg und nicht nur aus der Ankunft besteht und deshalb viel reicher und schöner ist, als man es sich vor dem Aufbruch vorstellen kann.

Man sollte sich einfach dem Rythmus hingeben und keinen sportlichen Ehrgeiz übertriebenermaßen an den Tag legen. Gut, den Tag zu planen und duchzuhalten ist quasi sportlicher Ehrgeiz, aber darüberhinaus sollte man auf sein Inneres hören was es sagt und entsprechend Pausen einlegen, bevor einem die Socken qualmen.

Es ist seltsam, aber es ist so: Jeden Morgen hat man in seinem Inneren den unwiderstehlichen Wunsch, weiterzugehen, koste es, was es wolle. Egal wie das Wetter ist, egal ob es regnet oder kalt ist. Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Ausrüstung, sagte mal Louis Trenker. Man vergisst, wie beschwerlich der vorherige Tag war, man ist vollkommen gepackt, die Schuhe geschnürt, ein „Buon Camino“ in die Runde, leise aber bestimmend, und schon entzündet sich das Feuer des Camino.

Der Weg ist ein Dorf…

Ich treffe auf unserer Branchenmesse in Düsseldorf Horst aus der Nähe von Frankfurt. Er arbeitet bei Holger in der Agentur, mit dem ich schon zwei Mal beim Tauchen war. Schnell haben wir festgestellt die gleichen Leute gesehen, gesprochen zu haben, u.a. Rita aus Konstanz, die vom Bodensee aus bis nach Finesterre gewandert ist, eine schmächtig schmale weisshaarige Frau von Anfang 60. Unglaublich, Horst muss ca. 1 oder zwei Tage hinter mir gewesen sein. Hat Santiago erreicht an dem Sonntag, an dem ich mich von German verabschiedet habe und in Richtung Finesterre aufgebrochen bin. Die Welt ist ein Dorf und man begegnet sich immer wieder. Ein schönes Erlebnis, wahrlich ein schönes Erlebnis.

Zeit bekommt eine andere Qualität…

Auf Wanderschaft bekommt Zeit eine ganz andere Qualität.

Ich bin den Weg nicht gegangen, um ein einsames Abenteuer zu vollbringen, dessen ich mich im Nachhinein rühmen kann, nicht eine exzentrischen Urlaub zu machen oder mich mit denen zu vergleichen die den Weg bereits gegangen sind oder denen etwas voraus zu haben, die zu Hause geblieben sind und ihn nicht gehen können. Vielleicht war da ein Ruf, aufzubrechen, sich Zeit zu nehmen und dies auch für andere zu tun.

Die Wanderung hörte in Finesterre auf, körperlich, geographisch, auf. Das Ende der Welt war 3 Tage nach Santiago erreicht, aber das Gefühl weiterlaufen zu können ist sehr stark. Eine Art „gute Unruhe“. Ich bin unterwegs, nicht genau zu wissen oder zu sehen, wo ich ankomme, wo ich entlang gehe. Die innere Uhr scheint sich neu zu justieren und die Parameter um einen herum stellen sich neu ein. Einmal ist mir aufgefallen, dass ich weiter als die anderen jetzt gegangen bin. Viele gehen nur bis Santiago, nur wenige gehen weiter, aber unter diesen wenigen sind wieder bekannte Gesichter dabei. Gesichter, die ich seit Wochen immer wieder kommen und gehen sah. Es hat etwas von einer Art Feiertagslaune ansich, in der einem einfach alles gefällt – nach Finesterre! Ähnliches habe ich in den Tagen vor Santiago gespürt.

Viele fragten mich vor und nach der Wanderung, wie man den Tag so plant, wieviel ich laufen werde, und vieles mehr. Es sind viele Augenblicksentscheidungen. Mag sein, dass es im weiteren Verlauf des Weges einen noch besseren Platz gibt, an dem ich hätte bleiben können, mag sein, dass die Sonne in einer Stunde nicht mehr scheint, wenn ich jetzt Pause mache und einkaufen gehe. Mag sein, dass das Essen weniger kostet oder die Landschaft schöner ist, um Fotos zu machen. Trotz alledem muss ich immer vorher entscheiden, denn es kann eben auch sein, dass das alles nicht so ist und ich kann (und will) nicht zurückkommen und meine Entscheidung widerrufen. Unterwegs sein heisst, sich mit dem anfreunden, was im jeweiligen Moment möglich ist, auch wenn es nicht immer das Beste oder Schönste oder das ist, was man sich gewünscht hat. Ich muss mich auf den „Camino“ verlassen; haben ja auch schon viele vor mir getan.